Sonntag, 22. Juli 2007

Kurzgeschichte (sehr kurz)

Ich stand auf dem Bahnsteig und überlegte wieder wie es wohl sei, von einem Zug erfasst zu werden. Sich einfach auf die Schienen zu stellen und darauf zu warten, dass dieser heranfliegende Haufen Stahl auf dem Körper auftrifft. Spührt man den Aufprall? Hört man die eigenen Knochen brechen? Was denkt man, wenn man da steht und wartet, als sei es das, was ein Mensch eben tut. Dastehen und auf einen Zug warten. Auf den sicheren Tod warten. Ist man fähig zu stehen? Oder ist man gewillt, sich hinzuknien, wie vor einem Richter, der das Urteil verkündet, man habe sein Recht zu sein verwirkt, nun folge das Nichts?
Denkt man an Freunde? An die Familie? An den Busfahrer, der einen zur Haltestelle nahe den Gleisen gebracht und einen so unfreundlich angeschnautzt hatte, als man das Fahrgeld nicht passend hatte?
Denkt man an den Zugführer?
Oder fragt man sich, was mit dem eigenen Fahrrad passiert, das man vor einer viertel Stunde am Gartenzaun eines Mehrfamilienhauses abgeschlossen hat?
Wird man ungeduldig, wenn der Zug sich verspätet? Kommt man gar ins Grübeln über seine Entscheidung oder besitzt man kein Zeitgefühl?

Ich stehe auf dem Gleis und fühle, wie der Wind mich umtanzt. Immer wieder schiebt er sich durch meine Haare, kneift mich in die Ohren und drückt gegen meinen Rücken, als wolle er mich meinem Ende näherbringen. Leise beginnen die Schienen zu flüstern. Ich sehe sie an und sie glänzen matt zurück. Dann geht mein Blick in die Ferne. Meinem Ziel entgegen. Es ist egal wann er kommt, solange er nur kommt.
Jetzt singen sie. Sie singen für mich. Ein Solo in moll. Sie werden lauter und ich lege meinen Kopf in den Nacken. Die Hände in den Hosentaschen warte ich mit dem Blick nach oben gewendet. Zum letzten Mal Dein weißes Gesicht, zum letzten Mal mein Blick zu Dir und deiner Stimme. Komm.
Wie der Ton einer sanften Jazz-Trompete drängt sich das Signal des nahenden Zuges in meinen Kopf. Der Wind schweigt, die Nacht hält den Atem an. Mein Leben steht im weichen Licht einer Straßenlaterne, legt zwei Finger an die Stirn und verabschiedet sich lässig, wie von einem guten Bekannten.
Wieder die Trompete. Er spielt sie gut. Sie kommt näher. Ich schließe meine Augen und denke mir - komm.

Ein Güterzug rauschte, einen lauten Takt schlagend, an mir vorbei. Sein Sog zupfte an meiner Jacke. Lockend, bettelnd, ungeduldig, wie ein kleines Kind, das einem etwas unglaubliches zeigen will. Komm.
Das Rauschen nahm kein Ende. Aber als es abriss, war alles seltsam stumm.
Betretene Stille legte sich wie ein schweres, nasses Tuch über den Bahnsteig. Und wie jemand, der vergeblich versucht, seinem verpassten Bus nachzurennen, stolperte ein Fetzen Papier, wie ein Taschentuch, über die Schienen. Es schrie verzweifelt hinterher, aber es war zwecklos. Von der Gewissheit ausgebremst wurde es langsamer und blieb schließlich neben den Schienen liegen. Es musste eingesehen haben, dass es nicht dazugehört. Es war nicht einer dieser Stahlkolosse, die sich unermüdlich durch die Welt schoben, sinnerfüllt die Aufgabe ausführend, zu der sie gemacht waren. Nein. Es rannte einem fremden Sinn hinterher. Es war zu langsam, zu leicht und zu schwach. Es war leer, kantig und etwas angerissen. Abgenutzt und verloren gegangen.
Ich war Papier.

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