Mittwoch, 21. November 2007

Vom zerbrochenen Schlüssel und dem Zwang zu denken

Neutral gelaunt kommt man die Treppe herunter, tritt vor das Haus, greift in die Jackentasche und nimmt den Schlüsselbund heraus. Nach kurzem Suchen findet man endlich den kleinen Fahrradschlüssel. Wie gewohnt führt man ihn ins Schloss und dreht ihn herum. – Nein, man versucht ihn zu drehen. Aber es funktioniert nicht, es kommt nicht die kleinste Bewegung zustande.
Einen Versuch gibt man sich noch, sollte der nicht zum Erfolg führen, wird man eben zur Uni laufen.
Ein letzter Anlauf wird gestartet. – Kurz knackt es und schon wurde einem die Entscheidung abgenommen, wie man zur Vorlesung kommt.
Der Schlüssel ist abgebrochen.
Dieses Erlebnis führte dazu, dass ich heute Morgen einen halbstündigen Spaziergang durch Erlangen gemacht habe, ständig in der Angst, zu spät zu kommen.
Gut, dass ich den mp3-Player dabei hatte, so läuft es sich gleich leichter.
Ich kam übrigens pünktlich in den Vorlesungsraum und war nicht mal die Letzte.
Dann saß ich neunzig Minuten da und – dachte.
Ich dachte darüber nach, warum ich ständig über alles und jeden nachdenke. Es ist schon ein regelrechter Zwang, der mich immer wieder dazu bringt, dass ich ein Gedankenkarussell anschiebe, das sich damit beschäftigt, warum man eigentlich sein Leben so gestaltet, wie man es gestaltet.
Weshalb erfindet die Menschheit immer wieder Beschäftigungen, die einen durch die Zeit, die man lebt, begleiten? Wo ist der Sinn des ganzen? Warum kann man seine Zeit nicht mit etwas verbringen, das einem selbst etwas gibt? Weshalb tun wir so oft Dinge, die wir gar nicht tun wollen, nur weil es von uns erwartet wird?
Wer erwartet das denn?
Die oft genannte „Gesellschaft“? Wer ist das? Wenn ich über die Menschen heute nachdenke, dann sind 95% davon Leute, denen ich gar nichts recht machen will, deren Erwartungen ich gar nicht erfüllen möchte.
Sicher, gewisse Regeln muss es geben, an die man sich hält, damit das Zusammenleben einigermaßen gut läuft. – Aber schauen wir uns doch mal um! Wer hält sich denn noch an wirklich wichtige Grundregeln? Das tut doch niemand mehr!
Wir haben uns Schritt für Schritt einsamer gemacht. – Was eigentlich gegen die menschliche Natur geht, denn rational betrachtet, ist der Mensch ein Rudeltier. Mit komplizierten Sozialstrukturen, die sich über viele tausend Jahre Evolution entwickelt haben.
Aber ich habe den Eindruck, dass viele der heute lebenden Menschen gar nicht mehr im Verband leben können.
Langsam merke ich es an mir selbst, der Mensch muss sich immer stärker anstrengen, um seine Kontakte zu pflegen und sich ein Netz zu schaffen, das ihn wirklich auffängt, wenn er mal fallen sollte.
Der Mensch – ich sage lieber ich, sonst heißt es, ich verallgemeinere – also: ich bin ein Einzelgänger geworden.
Ich habe verlernt sozial zu sein.
Ein wenig komme ich mir vor wie Rilkes Panther, nur dass ich in mir selbst gefangen bin. Für alle anderen ein trauriger, erschütternder Anblick, ein Schatten von dem, was ich vor vier oder fünf Jahren war. Menschlich verkümmert.
Manch einer wird wahnsinnig, schreit seine Traurigkeit, seine Trübsal heraus. Ich hingegen werde still, schreie in mich hinein und suche alle vor mir zu bewaren.
Kein Ventil, das ich einmal hatte, ist mehr genug. Der Druck ist zu groß und kulminiert immer wieder in dem einen Wunsch, dem unsagbaren Wunsch.
Denn niemand will, dass man darüber redet. Man dürfe an diesen Ausweg nicht einmal denken, wird oft gesagt. Was aber, wenn man nur noch diesen Gedanken hat? Wenn am Ende jeder Überlegung diese eine Lösung steht?