Montag, 21. Dezember 2009

Wer sein Leben liebt, der schiebt.

Oder er bleibt gleich daheim. Das gilt im Moment für alle, die in der selbst ernannten Fahrradstadt Erlangen unterwegs sind. Denn von den Hauptverkehrsstraßen einmal abgesehen, sind weder Straßen noch Gehwege wirklich geräumt oder wenigstens so präpariert, dass man gefahrlos darauf fahren oder gehen kann. Gleiches gilt natürlich für die Radwege.
Einigermaßen erholt von der gestrigen zweistündigen Wanderung durch den Sebalder Reichswald und zumindest kleidungstechnisch voll ausgerüstet machte ich mich um Viertel vor Zehn auf den Weg zur Uni. Mit dem Rad.
Dass ich nun hier am Schreibtisch sitzen und die Geschichte erzählen kann beweist, dass ich den Tag überstanden habe, ohne mir größeren Schaden zugezogen zu haben. Allerdings verdanke ich das nur dem, was man allgemein gesunden Menschenverstand nennt. Denn irgendwann sah auch ich ein, dass es nicht nur für die anderen Verkehrsteilnehmer eine nicht einzuschätzende Gefahr wäre, führe ich weiter auf meinem Drahtesel über schneebedeckte Eisplatten, Matschhaufen, unkenntlich zugeschneite Bordsteinkanten und kaum merkliche Bodenwellen, die derzeit allesamt ein übermäßiges Potenzial in sich tragen, Auslöser großer Auftritte zu sein.
Ich erreichte die Uni unverletzt. Meine folgenden Wege legte ich jedoch überwiegend zu Fuß zurück.
Es ist jedoch mehr als erstaunlich, dass gerade ältere Menschen zu der Gruppe von Radfahrern gehören, die auch dann noch auf den Straßen unterwegs sind, wenn ringsum sämtliche Flughäfen, Eisenbahnen, Pkw und Räumfahrzeuge den Geist aufgeben und vor der Natur kapitulieren.
Von den Radfahrern, die ich heute gesehen habe und die auch wirklich Rad fuhren, waren etwa achtzig Prozent ganz locker im Rentenalter oder drüber. Wie kommt das?
Den gesamten Nachmittag beschäftigte ich mich mit dieser Frage und schließlich erwies sich in meinen Augen nur eine Lösung als wirklich glaubhaft:
Während meiner Fahrt hatte ich festgestellt, dass es nicht möglich war, den Lenker gerade zu halten, da man das ständige Wegrutschen und Abgleiten ausgleichen musste. Diese ungewohnte zusätzliche Bewegung nach links und rechts sorgte für noch mehr Unsicherheit.
Bei älteren Menschen scheint diese kein Problem zu sein. Und genau darin liegt die Lösung, das ist des Pudels Kern, um einmal literarisch zu werden:
Wer ordentlich zittert, bleibt im Sattel.
Alte und ältere Menschen sind im Grunde an das Zittern gewöhnt und können sich so ganz natürlich an die Ansprüche des winterlichen Radfahrens anpassen.
Den Gedanken, ab jetzt nur noch vergleichsweise leicht bekleidet zu fahren, verwarf ich sofort nachdem mich mein Gedächtnis an den gestrigen Tag erinnert hatte.
Der Wald ist etwa zehn Gehminuten von der Wohnung entfernt. Ideal also, um ab und zu einen kleinen Spaziergang zu machen. Das war auch gestern mein Ziel. Ich wollte vielleicht für eine gute Stunde an der frischen Luft sein und das Winterwetter genießen.
Dass daraus zwei Stunden wurden und ich am Ende nachvollziehen konnte, wie man sich nach zu vielen Botox-Behandlungen fühlt, aufgrund derer man keine Mimik mehr besitzt, lag daran, dass ich die Entfernung meines eigentlichen Ziels vollkommen unterschätzt hatte.
Letztendlich war ich noch zwei Kilometer von der Stadtgrenze Erlangens entfernt, als es bereits so dunkel geworden war, dass ich sicher nichts mehr gesehen hätte, hätte mich nicht der Rückweg an der Bundesstraße entlanggeführt.
Von der Kälte bereits soweit bearbeitet, dass ich den Eindruck hatte, zwischen meinen Füßen und meinem Rumpf befände sich nichts, stapfte ich immer weiter. Zur Sicherheit sah ich mich häufiger um; mir war schon etwas mulmig, da mir seit knapp einer Stunde niemand mehr begegnet war und ich von den vorbeirauschenden Autos auch nur die Lichter sah. Irgendwann musste ich angefangen haben, vor mich hin zu singen, denn ich ertappte mich plötzlich beim altbekannten Kirchenlied „Großer Gott wir loben Dich“, dessen Text mir nur fragmentarisch zur Verfügung steht, was dazu führte, dass ich immer wieder die gleichen Stellen sang. Um nicht vollends ins Nirvana abzuschweifen, wechselte ich die Platte und begann sämtliche Weihnachtslieder an- oder durchzusingen, die mir geläufig sind.
Als ich meinen Ausgangspunkt dann doch wieder erreicht hatte, wurde mir klar, dass ich noch nie so sehr darauf gehofft hatte, die Leuchttafel des örtlichen Baumarktes zu sehen. Ich war wieder zu Hause. Zurück in der Zivilisation.
In der Wohnung angekommen kam mir eine Idee, deren Folgen ich zu diesem Zeitpunkt nicht absehen konnte. Ich wollte schön heiß duschen. Nicht lauwarm oder warm, nein, heiß. Gesagt, getan.
Langsam und vorsichtig machte ich die Augen wieder auf.
Ich fror.
Irgendetwas nasses lag unter mir. Meine Haare. Die Bettdecke. Ein Kopfkissen.
Mir wurde nur schleppend bewusst, was sich zwischen jetzt und dem Griff nach dem Wasserhahn abgespielt haben mochte.
Mein Kreislauf hatte verrückt gespielt und war mit dem offensichtlich zu starken Kontrast von Kälte und Wärme nicht fertig geworden. Es hatte mit leichten Nackenschmerzen begonnen, sich in schwarzen Punkten vor den Augen fortgesetzt und die letzten Schritte zum Bett musste ich schon in geistiger Umnachtung getan haben, denn erinnern konnte ich mich daran nicht mehr.
Super.
Was ich durch den oben genannten Wechsel des Liedgutes zu verhindern gesucht hatte, war mir nun innerhalb von zwei Minuten unter einer zu heißen Dusche gelungen: Ich hatte mich in fremde Welten katapultiert.
Den Rest des Abends hindurch genoss ich einen Wechsel von normalem Befinden und Schüttelfrost, unterbrochen von kurzem Unwohlsein.
Frohe Weihnachten.