Freitag, 18. Juni 2010

Momentaufnahme

Es gibt Tage, an denen sollte man liegen bleiben und Tage, an denen man besser nicht aufgestanden wäre.
Ja, tatsächlich.
Augeblicklich scheinen sich diese beiden Varianten mehr oder weniger gut abzusprechen, denn sie wechseln sich recht regelmäßig und nahezu täglich ab.
Und bei beiden genügt eigentlich schon ein Blick aus dem Fenster, was sage ich, über den Rand des Bettes hinaus. Neben den üblichen Gegenständen fallen mir sofort die großen dicken Papierstapel auf dem Schreibtisch ins Auge. Sie liegen da und scheinen beinahe vorwürfig mit verschränkten Armen und mit dem rechten Fuß auf dem Boden tappend, in einem ruhigen und doch klaren und überdeutlichen Ton zu fordern: "Lerne! Bewege deinen nichtsnutzigen, faulen Studentenhintern aus dem Bett, setz dich auf den Hosenboden und pauke!".
Sie sagen das natürlich nicht. Es ist nur ein Haufen PApier der mit Buchstaben bedruckt und schweigend auf meinem Schreibtisch liegt. So fern bin ich der Realität dann doch noch nicht.
Allein der ANblick dieses Stoffes jedoch, den ich mir bis zum sechsten August einprägen muss, allein das Sehen der kopierten Seiten sorgt dafür, dass ich bereits nach zehn Sekunden, die ich einigermaßen wach an diesem Tag geknabbert habe, ein schlechtes Gewissen habe. Schließlich lag ich etwa neun Stunden einfach nur im Bett, ohne etwas zu tun. Das kann ja nichts werden. Wie soll man denn da zu einer guten Lehrkraft werden, wenn man nächtelang schläft?
Ich liege also da und fühle mich, als wäre ich ganz allein an jedem einzelnen verdammten Tropfen Öl schuld, der zur gleichen Zeit ins Meer blubbert. - Immer hin, das mit dem aktuellen Bezug klappt wenigstens schon mal.
Trotz des gesamten Gewichts eines achttausender Bergmassivs auf mir, wuchte ich mich aus dem Bett. Nein, es ist wohl eher eine Art zähes Fließen, was meine Weise der Forbewegung am besten beschreiben würde. Als wäre ich der Ihalt eines Glases Honig, das umgekippt wurde, woraufhin sich die klebrige Bienekotze (denn nichts anderes ist der süß Brotaufstrich nun mal) langsam seinen Weg bahnt.
Sehr viel mehr Schwung wird mein Körper den Rest des Tages nicht mehr erreichen, mal abgesehen von der Radfahrt zur Uni und zurück. Ansonsten läuft alles eher im Chamäleon-Tempo ab. Dass ich gelegentlich von älteren Damen mit Gehwägelchen überholt werde, frustet mich mittlerweile schon gar nicht mehr.
Sollte ich an diesem Tag doch noch zu einem Geheft aus dem gefürchteten Lernstapel greifen, dann vollgestopft bis zum Rand mit Angst, Unterwürfigkeit und im vollen Bewusstsein, dass ich mir sowieso nichts von dem merken kann, was mich nun erwartet.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, vielleicht auch Komik, dass es im Text ausgerechnet darum geht, wie man möglichst effizient lernt. Wie nicht anders zu erwarten finde ich mich vor allem in den Negativbeispielen wieder. Fehlende Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung, andauernde 'worry'-Gedanken und eine Überdosis an Amotivation füllen mich bis zum letzten Kubikmillimeter aus.
Letztlich versinke ich erneut im Gedankengestrüpp der Frage, was aus mir eigentlich werden wird.
Mein Kopfkino schließt die Saaltür, dimmt dass Deckenlicht und der Vorhang gibt den Blick auf die Leinwand frei, auf der ich die Rollen sehe, die ich im Begriff bin, für mein sogenanntes Leben anzunehmen:
Arbeitslose Fettleibige, die vor dem Computer sitzt und Solitär spielt, während sie mit der freien Hand Chips zwischen ihre gelben Zähne stopft, nur um dann mit Billigcola nachzuspülen, Single versteht sich; ganz in Schwarz gekleidete Psychiatriedauerpatientin, die immer neue Wege findet, einen Selbstmord durchzuführen, der jedoch nie gelingt, weil sie letztlich zu feige ist und jedes Mal mit letzter Kraft den Schwesternknopf drückt, um kurz vor dem Exitus gefunden und 'gerettet' zu werden.
Das letzte Bild, das zu sehen ist, während der Vorhang schon langsam das Blickfeld von rechts und links zu verengen beginnt, ist jenes, welches mich in den nächsten Stunden nicht loslässt. Eine tote Frau.
Ich.
Und es ist nicht so sehr das Bild an sich, das mich stark beschäftigt, sondern es sind die Gefühle, die es in mir auslöst.
Erleichterung und eine gewisse Entspanntheit, eine wohlige Zufriedenheit, die mich meine eigene Stimme hören lässt und die sagt "Es ist okay.". Die Gewissheit damit der Menschheit oder zumindest denen, die tatsächlich oder potenziell mit mir zu tun haben, eine große Last zu nehmen. Einerseits.
Andererseits zwei Ängste.
Die Angst, dass ich mich immer Hassen werde, dass ich nie ein Leben ohne diese scheiß Depression haben werde.
Und die Angst, dass sie irgendwann gewinnt.